Anmerkungen der Regisseurin

Was ist Jungfräulichkeit? Etwas Körperliches? Etwas Geistiges? Oder vielleicht gar etwas Politisches? Das Thema war nicht nur im Mittelalter Gegenstand lebhafter Debatten, es hat seine Bedeutung bis heute nicht verloren. Ob freudig erwartet, gefürchtet oder vermeintlich schamlos, die Entjungferung ist auch heute noch mit Emotionen verbunden. Geprägt von der Kultur, der religiösen Zugehörigkeit und des eigenen Charakters, wird dieser wichtige Schritt auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenwerden von jedem ganz individuell erlebt – egal wie detailliert jemand zuvor aufgeklärt worden ist.

Als ich mich vor bald zehn Jahren nach einem angeregten Abendessen in weiblicher Runde als Filmemacherin für das Thema zu interessieren begann, habe ich mich in Amerika und Europa auf die Suche nach Literatur gemacht, um mehr über den kulturellen, psychologischen und physischen Hintergrund der Jungfräulichkeit und Entjungferung zu erfahren. Mit grossem Erstaunen stellte ich fest, dass es nur sehr wenige Werke gab (und gibt), die sich mit diesem Thema befassen. Entweder waren es Bücher von Psychologinnen und konzentrierten sich primär auf Psychosen, die in Zusammenhang mit dem Verlust der Jungfräulichkeit stehen, oder es waren Soziologinnen, Anthropologen oder Evolutionstheoretiker, die sich dem Thema annahmen. Warum sich heute aber so viele Jugendliche ganz bewusst für ein keusches Leben bis zur Ehe entscheiden und inwiefern dieser Entscheid von ihrem Umfeld gefördert oder gar gefordert wird, darüber fand ich nur sehr wenige Informationen.

Wer sich auf das Thema Jungfräulichkeit einlässt, merkt schnell, wie unglaublich spannend und komplex es ist. „A big issue about a little tissue“, witzelte eine New Yorker Freundin an besagtem Abendessen, das mich auf das Thema aufmerksam machte, und outete sich als frühreife Verführerin. „Es war nichts Besonderes“, liessen andere anfangs verlauten. Doch je länger der Abend dauerte, desto ehrlicher wurden die Erzählungen. „Ich war 14. Eigentlich wollte ich noch gar keinen Sex, aber mein Freund war schon ein paar Jahre älter und drängte so lange, bis ich mich überreden liess.“ – „Mein Freund hat Schluss gemacht mit mir, weil ich noch nicht mit ihm ins Bett wollte.“ – „Irgendwann war mir egal, wer mein erster Liebhaber würde. Ich wollte es endlich hinter mich bringen.“

Die Defloration (oder Entjungferung) ist ein einmaliges Ereignis in unserem Leben, das nicht wiederholt werden kann. Die Jungfräulichkeit wird deshalb als Geschenk erachtet, als Preis, Barriere oder Tabu. Von Bedeutung ist die Jungfräulichkeit aber nur bei den Menschen. Nicht mal unsere nächsten Verwandten im Tierreich, deren sexuelles Verhalten und soziale Strukturen unsern eigenen oftmals verblüffend ähnlich sind, sind sich der Jungfräulichkeit auch nur im Geringsten bewusst oder lassen ihre Entscheidungen durch sie beeinflussen. Wir haben sie erfunden und entwickelt, wir haben sie verbreitet durch unsere Kulturen, Religionen, gesetzlichen Institutionen, durch Kunst und wissenschaftliche Arbeiten, und wir haben sie zum patriarchalen Machtinstrument gemacht, das die soziale Rolle der Frau noch heute definiert und kontrolliert.

Mich interessiert aber nicht nur, auf welche Weise diese Macht ausgeübt wird, sondern auch, wie junge Frauen heute mit diesem Verhaltenskorsett umgehen, das man um sie schnürt. Dem wollte ich durch Beobachten der Familie Wilson, Gründerfamilie der Purity Bälle (Keuschheitsbälle), nachspüren. Denn ich habe schon nach kurzer Zeit gemerkt: Selbst die sieben Wilson-Kinder haben (nicht nur vom Vater übernommene) Träume, Sehnsüchte, Eitelkeiten – und zuweilen auch Zweifel an ihrem Glauben.

Was die Familie für mich aber geradezu ideal für eine solche Langzeitbeobachtung machte, ist die Ambivalenz, welche sie auslöst. Es ist keine intellektuelle Ambivalenz – ich weiss sehr wohl, was ich inhaltlich von ihren Aussagen halte und wie ich sie zu werten habe –, sondern eine affektive. Als Beobachter wird man immerzu hin- und hergeworfen, findet sie mal sympathisch, dann wieder abstossend. Es ist uns auch während des Drehs unglaublich schwer gefallen, am Abend oder während Mahlzeiten das Thema zu wechseln, immer wieder landete unser Gespräch bei den Wilsons. Diese Familie hat eine unglaubliche Faszination auf unsere durchwegs feministisch verankerte Frauencrew ausgeübt und ganz gegensätzliche und wechselnde Emotionen provoziert: vehemente Abneigung, aber auch Sympathiekundgebungen. Das macht sie für mich zu stärkeren Protagonisten für unseren Film – und zu weitaus gefährlicheren Missionaren.

Meine Welt – meine Philosophie, Religion und mein Umgang mit Sexualität – ist eine ganz andere als diejenige der Wilsons, und es liegt mir fern, das Gedankengut der Familie zu übernehmen, damit zu sympathisieren oder dieses zu verharmlosen. Ich bin aber überzeugt, dass es gerade die ambivalenten Gefühle sind, die man den Wilsons gegenüber entwickeln kann, die den Zuschauer reizen, den Kosmos dieser Familie zu verstehen und einen ganzen Film lang „dranzubleiben“. Anstatt nach spätestens einer halben Stunde abzuhängen, weil man denkt, man habe nun begriffen, worum es geht.

Ich bin den Wilsons sehr dankbar, dass sie mir und meiner Crew erlaubt haben, während zwei Jahren einen Einblick in ihre Welt zu bekommen. Ich respektiere sie und ihre Art zu leben, auch wenn ich diese für mich nicht akzeptieren kann. Trotzdem war es mir wichtig, dass sie – wie alle Protagonisten meiner Filme – mit Respekt und Würde behandelt und nicht ausgestellt oder lächerlich gemacht werden. Ich bin überzeugt, dass man Lebensmodelle hinterfragen kann, ohne sie banal ins Lächerliche zu ziehen. Das hiesse nämlich auch, die politische Macht, welche diese Bewegung innehat, nicht ernst zu nehmen, die in ihrer Überzeugungskraft liegt, ihrem mythischen und symbolischen „Ködern“ und ihrem Appell an die Ur-Sehnsüchte.

Es ist mir deshalb ein besonderes Anliegen, dass der Release des Filmes von Diskussionen begleitet wird, die von Vertretern aller Philosophien und Religionsrichtungen geführt werden. Denn nicht nur in Amerika, wo zur Zeit zwei Politiker um die Nomination zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten kämpfen, die den Abstinenzunterricht unterstützen, brennt das Thema. Auch hierzulande sind der Aufklärungsunterricht oder die Wahl der Lektüre an Schulen Gegenstand emotionaler Diskussionen geworden.

Ich wünsche mir deshalb, dass VIRGIN TALES Anstoss und Auslöser vieler interessanter Gespräche werden kann und einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einem Thema, das das Leben zahlreicher Frauen, aber auch Männer, entscheidend prägt.

– Mirjam von Arx