Die evangelikale Bewegung in den USA
Eines von acht Mädchen zwischen acht und 18 Jahren legt heute in den USA ein Keuschheitsgelübde ab. Dies ist auf die enorme Verbreitung der evangelikalen Lehre zurückzuführen, welche die Bibel wörtlich nimmt und dort das Gebot der Jungfräulichkeit bis zur Ehe findet.
In den USA stellen die Evangelikalen – ultrakonservative Christen, die an die Unfehlbarkeit der Bibel glauben, Un- und Andersgläubige missionieren, eine „persönliche Beziehung“ zu Jesus Christus haben und Homosexualität als Sünde betrachten – etwa einen Viertel der Bevölkerung und bilden damit vor den Katholiken (24%) und den Anhängern der protestantischen „Mainline- Kirchen“ (18%) die stärkste religiöse Vereinigung des Landes. Entsprechend können sich die Evangelikalen Gehör verschaffen, wenn sie die „zweite sexuelle Revolution“ ausrufen: Die gelockerte Moral seit 1968, die Gefahr von Aids, die zunehmende Sexualisierung der Medien und der massiv vereinfachte Zugang zu Pornographie lassen sie um ihren Nachwuchs bangen. Und sie setzen alles daran, ihn vor dem „Feind Sex“ zu beschützen.
Eine entsprechend einflussreiche politische Position nimmt die christliche „neue Rechte“ der USA ein, die mehrheitlich aus Evangelikalen besteht – zu den bekanntesten Vertretern aus der jüngeren Vergangenheit (und Gegenwart) gehören etwa Sarah Palin, Michele Bachmann oder George W. Bush. Die grosse Mehrheit der Evangelikalen ist gegen die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, gegen pluralistische Lebensstile und für die Todesstrafe. Und in einem Punkt sind sie sich ganz besonders einig: Sex vor der Ehe ist ein absolutes No-Go.
Die Wilson Familie als Sinnbild der Purity Bewegung
Die Wilsons sind eine neunköpfige evangelikale Familie, die in Colorado Springs lebt – derjenigen US-Stadt, die als Zentrum der evangelikalen Christen gilt und oft auch als „evangelikaler Vatikan“ bezeichnet wird. Die Wilsons sind die Begründer der so genannten Purity Balls, bei denen Töchter (manche nicht älter als vier Jahre!) im Abendkleid von ihren Vätern begleitet werden und gemeinsam ein Gelübde ablegen, alles zu tun, damit das Mädchen bis zur Ehe keusch bleiben möge. Seit 1998 finden diese Bälle jährlich statt, und werden in den USA inzwischen in 48 US-Staaten gefeiert.
Vater Randy Wilson bildet somit den Schlüssel zu der weltweit um sich greifenden Purity Bewegung. Seine Familie wird in den US-Medien als Sinnbild für die Neue Reinheit gefeiert oder – je nach Standpunkt – verhöhnt. Und die fünf Wilson-Töchter, die nur einen Mann heiraten wollen, der genauso ist wie ihr Vater, sind die Vorzeige-Jungfrauen der USA: jung, hübsch, charmant und jeden noch so scheuen Kuss vor der Ehe verteufelnd. Und auch die Söhne vertreten strikt die Haltung, eine Frau das erste Mal vor dem Traualtar zu küssen.
Das Jungfräulichkeits-Gebot
Die Wilsons sind ein lebendiges Beispiel dafür, wie stark das Konzept „Jungfräulichkeit“ auch heute noch das Leben junger Frauen beeinflussen, ja es sogar regelrecht dominieren kann – und zwar gerade dort, wo wir das patriarchale Machtsystem längst überwunden glaubten: in dem aufgeklärten, westlichen Land USA, Land der Freiheit und der vermeintlich selbstbestimmten jungen Frau. Denn so passiv wie die Frauen der Purity Bewegung sich in Bezug auf Sex verhalten sollen, genauso passiv sollen sie auch in allen anderen Lebensbereichen auftreten. Feminismus ist ein Schimpfwort. Die Frau gehört an den Herd, nicht in eine berufliche Laufbahn. Sie ist dazu da, ihrem Mann zu dienen, der von Gott zum Führer der Frau auserkoren worden ist.
Die Wilsons fordern aber nicht nur Reinheit im physisch-sexuellen Sinn, sondern auch geistig und emotional: Verlieben sollen sich die Kinder vor der Ehe auf keinen Fall und bereits sexuelle Gedanken sind eine Sünde. Erstaunlicherweise zeigen sich alle sieben Kinder absolut im Einklang mit diesem Gebot: es sei ihr Schlüssel zum Glück, sagen sie.
Dass die Wilson-Töchter die Mission ihrer Eltern so unermüdlich vertreten, mag auf die fast vollkommene Abschottung von der anders denkenden Aussenwelt zurückzuführen sein. Mutter Lisa vergleicht „die Welt da draussen“ nämlich mit einem Tsunami, der für Mädchen geradezu lebensgefährlich sei. Aufklärung über Verhütungsmittel oder Warnungen, dass Männer Frauen auch ausnutzen, könnten vielleicht das Schlimmste verhindern. Sie seien aber selbst im besten Fall nichts als eine notdürftige erste Hilfe. Wer seine Kinder wirklich schützen wolle, der bringe sie in Sicherheit, so dass sie vom Tsunami gar nicht erst erfasst werden könnten.
Von frühester Kindheit an wurden die sieben Wilson-Sprösslinge deshalb wie rund eine Million andere evangelikale US-Kinder zu Hause unterrichtet, von Mutter Lisa selber. Hier lernen die beiden Jungs neben Bibelzitaten vor allem, wie sich ein tugendhafter männlicher „Führer“ zu verhalten hat und die fünf Mädchen, wie man dem zukünftigen Ehemann ein gemütliches Heim bereitet. Kontakt zu Gleichaltrigen kommt seit jeher lediglich beim Kirchenbesuch oder den regelmässig stattfindenden „Teas“ zustande, bei denen die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern über ihren Glauben sprechen und sich gegenseitig darin bestärken, dass ihre Lebensform die einzig wahre sei.
Die europäische Situation
Wer jetzt aber denkt, das sei einfach ein amerikanisches Phänomen, der liegt falsch. Auch in Europa boomt die Purity Bewegung. Ihre Anhänger begreifen sich als Revolutionäre, die gegen den sexuell chaotischen Zeitgeist ankämpfen. Auch in der Schweiz gibt es zahlreiche Jugendliche, die vor Gott schwören, keinen Sex vor der Ehe zu haben; prominentes Beispiel dafür ist die Freundin des aktuellen Mister Schweiz. Organisationen wie Precious Youth oder „Christen für die Wahrheit“ propagieren „sexuelle Reinheit“ und „verzichten bewusst auf aussereheliche Beziehungen, Selbstbefriedigung und Pornographie”. Mitglieder von Precious Youth werden ermutigt, in ihrer Jugendgruppe, im Lager, ihrer Gemeinde oder Schulklasse einen Anlass zum Thema Sexualität zu veranstalten und die Vertreter von Precious Youth dazu einzuladen. “Wir kommen mit einem kleinen Team zu dir und berichten, was sexuelle Reinheit für uns im Alltag bedeutet und was die Bibel dazu sagt.”
Selbst erste Jungfrauen-Bälle, wie die von der Wilson Familie gegründeten Purity Balls, werden mittlerweile in Europa gefeiert. Die Anzahl potenzieller Anhänger der internationalen Purity Bewegung ist immens: Die „World Evangelical Alliance“, der Dachverband für nationale und regionale Allianzen sowie internationale Organisationen, vertritt nach eigenen Angaben 600 Millionen Christen in 128 Ländern. In Deutschland leben heute 1,3 Millionen evangelikale Christen. In der Schweiz machen sie bis jetzt zwar nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung aus, in gewissen Gebieten aber bereits über 40 Prozent – so zum Beispiel in Teilen des Emmentals oder im Frutigland. Und fast überall ist die Tendenz steigend. Schliesslich ist die evangelikale die zur Zeit am schnellsten expandierende christliche Kirche der Welt.
Leise und vorerst weitgehend unbemerkt machen sich Evangelikale im Verbund mit konservativen Politikern daran, ihrer Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit auf Umwegen auch in der Schweiz zum Durchbruch zu verhelfen und mit gesetzlichen Vorschriften Nachdruck zu verleihen. Soeben wurde eine Volksinitiative gegen Aufklärungsunterricht an den Schulen lanciert, die die Debatte über die Sexualmoral auf die politische Bühne verlagert. Es ist eine heimtückische Initiative, denn vordergründig hat sie das Wohl der Kinder im Auge und spielt mit der in Schulfragen verbreiteten Verunsicherung vieler Eltern. Die gestrenge Moral wird praktisch unbemerkt und nebenbei mitgeliefert.